Spiegel im Flur und ein Kind davor
– Was sieht mehr, der Spiegel oder der Mensch? – fragt mich vorgestern unser sechsjähriger Sohn. Ich muss schmunzeln – fast schon philosophisch, die Frage.
– Was denkst du? – frage ich zurück. Er schaut sich um, runzelt seine glatte Kinderstirn.
– Der Spiegel ist groß, da passt mehr rein. Und das Auge – er fasst sich mit dem Finger daran, sodass eine Träne runterkommt – das zielt auf einen Punkt, es sieht dann genauer…
Kinder sind manchmal verblüffend in ihrer Intuition und Beobachtungsgabe. Der Kleine schläft schon längst, wenn ich über unser Gespräch und unterschiedliche Arten von Spiegeln nachdenke.
Spiegeln, Sparren, Feedback, Perspektivenwechsel … Alles Begriffe, die gerade in allem Munde sind. Wenn ein gewisser Kontext hergestellt wird, nutzen wie sie fast automatisch, obwohl sie gerade dafür da sind, den Automatismen in unserem Alltag entgegenzuwirken. Unten wage ich eine informelle, beispielbasierte Einordnung der Begriffe, am Ende kommt es aber darauf an, frisch auf das eigene Umfeld und auf sich selbst zu schauen. Schonungslos in der eigenen Neugier. Ohne Absicherung, ohne Angst, aus sich selbst heraus.
So wie einige Sechsjährige. Das rote Auge hat sich mittlerweile erholt. Auf dem Spiegel sehe ich weiterhin kleine Fingerabdrücke, es ist fast schade, diese wegzuwischen.
Wofür brauchen wir „Spiegeln“?
Neulich beobachte ich immer häufiger etwas, was selbstverständlich klingt, wenn man das aufschreibt – wir sind alle in unserer eigenen Perspektive verfangen. Je länger und tiefer wir uns mit einem Thema beschäftigen, desto stärker identifizieren wir uns damit. Das hat viele Vorteile (z.B. Motivation, Energie, Überzeugungskraft), aber ein wesentlicher Nachteil davon ist, dass wir oft nicht mehr in der Lage sind, das Thema in einen breiteren Kontext zu setzen. Gerade wenn etwas schiefläuft und das Ganze noch emotional aufgeladen wird, fällt es uns oft schwer, wieder eine breitere Perspektive einzunehmen. Eine Kundin beschrieb es so: „ich befinde mich in einem Tunnel, alles drum herum verliert an Konturen und Wichtigkeit, es ist ein wenig wie ein Traum, aber kein guter…“
Durch einen Fokus auf bestimmte Themen schauen wir selbstverständlich immer aus einer bestimmten, subjektiven Perspektive, wir beschreiten immer wieder unsere thematischen „Tunnel“, sonst könnten wir keine Experten sein. Irgendwann kann aber die Linie der Verhältnismäßigkeit überschritten werden – wann genau, ist schwer festzustellen. Oft höre ich, dass das unerwartet kommt – die Betroffenen befinden sich plötzlich in einem krankhaften (z.B. psychotischen oder Burn-Out) Bereich. Die inhaltliche Auseinandersetzung ist dann nicht mehr rein inhaltlich, es wird emotional und zwar über eine längere Zeit hinaus. Der Körper macht oft nicht mehr mit, nachdem seine Warnzeichen überhört wurden…
Es muss aber nicht so weit kommen. Ich würde das alltägliche „Perspektiven-Hygiene“ nennen: Wenn wir uns immer wieder aus unserer eigenen Sicht befreien – durch Interesse am Schicksal und Perspektive Anderer, durch Aktivitäten, die uns auf andere Gedanken bringen oder gar aus der Gedankenwelt rausnehmen (für einen ist das Yoga, für die andere – Schwimmen), durch Beziehungen und Gespräche mit Menschen, die uns kennen und uns ehrliches Feedback geben. Manchmal braucht es auch einen Prozess und eine Begleitung, die uns in unserer Selbstreflektion, im Abstand zu uns selbst und schließlich auch in unserer Veränderungsbereitschaft stärkt.
Prozess, in dem es nicht darauf ankommt, mehr von dem Gleichen zu tun
Sich auf einen Prozess einzulassen ist nie einfach. Im 1:1 Coaching genau so wenig wie in einem Gruppenveränderungsprozess. Es fordert Vertrauensvorschuss, Verbindlichkeit, Selbstdisziplin. Der Prozess ist ein sehr mechanisches, fast schon bürokratisches Wort, am Ende heißt es aber nicht „mehr von dem Gleichen“ und nicht nur „regelmäßige Termine einführen und einhalten“, sondern gemeinsam in die Tiefe zu gehen – jedes Gespräch wird uns möglicherweise mehr abverlangen, mehr an Selbsteinsicht, Selbstreflektion, an Offenheit uns selbst und der Perspektiven Anderer gegenüber. Es wäre bestimmt einfacher und irgendwie „gemütlicher“, bei sich zu bleiben – durch viele Sichten ist die Welt komplexer, schwer zu überblicken, aber umso spannender.
Aus Sich der Begleitung: Wichtige Methoden auf diesem Weg sind Spiegeln und Perspektivwechsel. Oft werden diese Begriffe wie Synonyme verwendet, aus meiner Erfahrung liegt jedoch das Spiegeln dem Perspektivwechsel zugrunde. Oft (bestimmt nicht immer) ist Perspektivwechsel Ergebnis von einem Spiegelungsprozess, manchmal eine eigenständige Methode und Ergebnis zugleich.
– Ich merke, dass du heute immer wieder deine Schwester erwähnst, auch wenn wir über ganz andere Themen sprechen – spiegelte ich vor Kurzem einer Kundin. Wenn danach ein verwundertes „Echt?“ zurückkommt, ist es ein Zeichen, dass du gerade eine breitere Perspektive in die Gedanken des Gegenübers einführst und dem Kunden etwas an der Wahrnehmung von draußen zurückgibst. Du bist in dem Moment der Spiegel im Flur, bei dem mein Sohn meinte, dass der Spiegel „mehr in sich tragen kann“, weil er größer ist (nicht unbedingt genauer). Das Spiegeln kann auf inhaltlicher Ebene stattfinden, oft ist es wirksamer, den Blick auf die Körperhaltung, Emotionalität, den Abstand zu den Themen und Interpretationstendenzen der Kunden zu richten.
Was ist denn der Unterschied zum Feedbackgeben? Feedback bezieht sich oft (nicht immer) auf die Wirkung vom Handeln oder von der Kommunikation einer Person auf die andere.
– Mich hat es getroffen, als du letztes Mal gesagt hast, dass ich mir keine Zeit für dich nehme… – wäre ein klassisches Feedback, weil das Verhalten einer Person auf die andere Person thematisiert wird.
Perspektivwechsel zielt wiederum oft darauf hin, eine ganzheitliche Perspektive einer anderen Person oder einer Gruppe für eine gewisse Zeit einzunehmen, gedanklich, manchmal sogar körperlich (ganzheitlich). Dafür gibt es viele Methoden (dazu mal ein anderer Blog).
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